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Teil 3: Demokratie 3.0

 

Erste Anwendungen von Quadratic Voting zur Entscheidungsfindung illustrieren seine Vorteile gegenüber gängigen Systemen. Doch was passiert, wenn wir Quadratic Voting bei Volksentscheiden einsetzen? Und ist das praktisch überhaupt umsetzbar?    
Michael Heger, 18. Juni 2024      ⌛️ 6 Minuten      📖 Glossar mit den wichtigsten Begriffen 

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Stellen wir uns einmal vor, Südafrika hätte bei den Parlamentswahlen 2024 auf Quadratic Voting gesetzt. Nun hätten die Südafrikaner:innen plötzlich die Möglichkeit gehabt, nicht nur eine bestimmte Partei zu wählen, sondern nach Bedarf auch gleich mögliche Koalitionspartner:innen zu priorisieren. Oder sie könnten eine begrenzte Anzahl von Stimmen einer Partei geben, die zwar ein für sie wichtiges Thema (z.B. die Landfrage) anspricht, ansonsten aber wenig überzeugend ist. Und das, ohne der Partei ihre einzige Stimme geben zu müssen.  

Bei Volksabstimmungen in der Schweiz könnte Quadratic Voting beispielsweise so aussehen, dass alle Bürger*innen ein eigenes Stimmkonto bekommen, das vor jedem der vier jährlichen Abstimmungstermine mit einer gewissen Anzahl von Punkten aufgeladen wird. Die Stimmberechtigten könnten nun ihre Stimmen nach individuellem Bedarf auf die verschiedenen Abstimmungen verteilen. Dabei steigt der Preis für jede zusätzliche Stimme quadratisch an (1 Stimme = 1 Punkt, 2 Stimmen = 4 Punkte, 3 Stimmen = 9 Punkte, usw.). 

Einerseits könnten sie ihre Stimmen wie gehabt bei allen Abstimmungen einsetzen. Andererseits könnten Sie auch einen Grossteil ihrer Stimmen für bestimmte Vorlagen und Initiativen einsetzen, die ihnen besonders am Herzen liegen. So könnten Angehörige von Minderheiten bei Themen, die sie besonders betreffen, mehr mitreden. 

Doch wie liesse sich ein solch komplexes System in die Praxis umsetzen?  

Von der Utopie zur Realität 


Hier kommt die Blockchain-Technologie ins Spiel. In den letzten Jahren sind Tausende neuer Blockchain-basierter Token entstanden. Der zugrunde liegende Smart Contract definiert ihre Währungspolitik, Interoperabilität und Übertragbarkeit.  

Was wäre, wenn wir einen Soulbound-Token einsetzen, der nicht übertragbar ist, sondern nur für Abstimmungen und Umfragen genutzt werden kann? Ein Governance-Token ohne Geldwert, der nach einem frei definierbaren Muster verteilt wird (z. B. für alle den gleichen Betrag, entsprechend dem individuellen Beitrag zum Projekt, usw.)?
 
Warum Blockchain? 
Aufgrund mehrerer charakteristischer Eigenschaften bietet die Blockchain-Technologie eine ideale Grundlage zur Umsetzung und Erprobung einer innovativen Lösung wie Quadratic Voting an: 
 

  • Dezentralisierung: Als dezentrales Netzwerk stellt die Blockchain sicher, dass keine einzelne Instanz den Abstimmungsprozess kontrollieren kann.  
     

  • Transparenz: Alle Transaktionen sind transparent, d.h. jede Abstimmung und die Anzahl der ausgegebenen Token sind öffentlich nachvollziehbar. Dies trägt zur Vertrauensbildung bei.  
     

  • Unveränderlichkeit: Einmal gespeicherte Daten auf der Blockchain können nicht mehr verändert werden. Dies ist entscheidend für die Integrität der Abstimmung. Sie stellt sicher, dass die Stimmen nach der Stimmabgabe nicht mehr verändert werden können.  
     

  • Sicherheit: Blockchains sind kryptographisch gesichert. Diese Sicherheit ist entscheidend, um den Wahlprozess zu schützen. 
     

  • Programmierbarkeit: Smart Contracts können so programmiert werden, dass sie komplexe Wahlmechanismen wie QV automatisch ausführen. Die quadratischen Berechnungen zur Stimmenkalkulation, die Durchsetzung der Regeln, die Verteilung der Stimm-Tokens und die Auszählung der Stimmen erfolgen ohne Intermediäre.
     

  • Tokenisierung: Ohne grossen Aufwand können digitale Token erstellt und verteilt werden, die in einem QV-System zum Einsatz kommen. Diese Token können frei gestaltet werden.  

     

Vertraulichkeit, Angriffe und geheime Absprachen

 
Einer der grössten Vorbehalte gegenüber Blockchain-basierten Abstimmungssystemen ist der potenzielle Konflikt zwischen der inhärenten Transparenz der Blockchain und dem Prinzip der Vertraulichkeit der Stimmabgabe. Zero-Knowledge-Proofs (ZKPs) sind eine mögliche Lösung für dieses Problem. Werden sie bei Blockchain-Abstimmungen eingesetzt, können sie bestätigen, dass eine Stimme korrekt abgegeben wurde, ohne den Inhalt des Stimmzettels offenzulegen.

 

Weitere Herausforderungen für quadratische Governance sind die Zuverlässigkeit von Identitätskonzepten und die Gefahr von Sybil-Angriffen. Absprachen unter den Teilnehmer:innen können die Ergebnisse zudem verfälschen, da sich Gruppen verschwören könnten, um ihre kollektive Stimmkraft zu verstärken. Gitcoin und ähnliche Projekte begegnen diesen Herausforderungen mit technologischen Lösungen, Nutzerschulungen und dem Engagement der Community. 
 
Ein Versprechen zur Stärkung der Demokratie?

 
Der Einsatz bei Gitcoin, die in diesem Essay gezeichneten theoretischen Szenarien und die reale Umsetzung in einigen kleineren Projekten verdeutlichen das Potenzial von Quadratic Voting.

Glen Weyl, der Microsoft-Ingenieur, der den Begriff geprägt hat, war der Ansicht, dass Regierungen und Institutionen Quadratic Voting nutzen sollten, um den Bedürfnissen der Gesellschaft besser gerecht zu werden. Er kritisierte das Modell der Mehrheitsentscheidungen, weil es nicht immer dem Gemeinwohl diene und die Demokratie schwächen kann.  

Weyl argumentierte, dass die Mehrheit auf Kosten der Minderheiten profitiere und dass die Tyrannei der Mehrheit auch ohne Machtkonzentration zu sozialer Ausbeutung und Schaden führen könne.

 

Seiner Meinung nach beeinträchtigt das Mehrheitsprinzip die Demokratie von Natur aus und hat in der Vergangenheit dazu gedient, Minderheiten durch verschiedene Hürden von der politischen Partizipation abzuhalten, was weltweit zur Schwächung demokratischer Institutionen beigetragen habe.  

Eine Frage des Designs und der Umsetzung 


Was ist von der Kritik zu halten, Weyls quadratisches Wahlsystem bevorzuge die Wohlhabenden? Weyl selbst verliert sich in Whataboutism und weist darauf hin, dass unser heutiges System in dieser Hinsicht nicht besser sei.  

Experimente auf der Blockchain zeigen jedoch, dass quadratische Abstimmungen fair und gleichberechtigt sein und die Unzulänglichkeiten herkömmlicher Abstimmungsmechanismen verbessern können, wenn sie richtig konzipiert und – im Gegensatz zu Weyls ursprünglicher Idee - mit einer künstlichen, nicht übertragbaren Währung umgesetzt werden.  

Der Weg zu einer gleichberechtigten, fairen und inklusiven Governance ist lang und mit zahlreichen Herausforderungen gepflastert - vor allem, um sicherzustellen, dass neu entwickelte Systeme nicht gehackt oder manipuliert werden können.  

Darüber hinaus müssen regulatorische Hürden, rechtliche Rahmenbedingungen und ethische Implikationen von Blockchain-basierten Wahlsystemen diskutiert werden. Dazu gehört auch das Risiko, dass neue Formen der Ausgrenzung oder Ungleichheit entstehen.

 

Ein Teil des Puzzles 


Weitere Experimente mit innovativen Governance-Mechanismen werden aus den Schwächen heutiger Anwendungen lernen und die Rahmenbedingungen an die jeweiligen Umstände anpassen müssen, um ihre Ergebnisse zu verbessern. Die Blockchain-Technologie bietet uns eine perfekte Spielwiese für solche Experimente.
 
Unsere heutigen demokratischen Systeme sind alles andere als perfekt und werden deshalb von vielen Seiten angegriffen. In einer sich schnell verändernden Welt mit wachsenden autoritären Tendenzen ist die beste Verteidigung eine proaktive Offensive. 

Neue Technologien ermöglichen es uns, neue Ideen auszuprobieren, um unsere Regierungssysteme und Institutionen kontinuierlich weiterzuentwickeln, Lösungen für ihre Schwächen zu finden und auf neue Herausforderungen zu reagieren. Experimente mit Quadratic Voting sind ein kleiner, aber vielversprechender Teil dieses Puzzles.
 

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